Eigentlich war es nur die Kindheitserinnerung, die Eduard Bergmann im vergangenen Jahr an die polnische Küste trieb. In Misdroy (Miedzyzdroje) wollte er nach 60 Jahren "doch mal schauen, ob was wiederzufinden ist" - dort hatte der Unternehmer als Junge mit seinen Eltern oft die Sommerferien verbracht. Er schlenderte durch die alten Straßen, besuchte die neuen Cafés und kam mit den Einheimischen ins Gespräch. Ein polnischer Immobilienhändler, der in exzellentem Deutsch vom neuen Misdroy schwärmte, überzeugte den in Bayern lebenden Deutschen schnell. Bergmann will demnächst am Ort seiner Kinderferienträume ein Domizil erwerben.
Die Kundenkarteien der meisten Immobilienhändler zwischen Swinemünde (Swinoujscie) und Kolberg (Kolobrzeg) sind derzeit gut gefüllt mit den Wünschen westlicher Euro-Nachbarn. Aber nicht erst nach dem EU-Beitritt Polens melden die Makler einen Run vor allem der Deutschen auf die Schnäppchen am Meer.
In Misdroy, so schätzen polnische Immobilienexperten, ist schon mehr als ein Drittel der Apartments im Besitz deutscher oder deutsch-polnischer Familien. Und während anderswo Ängste vor dem Ausverkauf polnischen Eigentums an Deutsche wachsen, scheinen auf der Insel Wollin die Käufer willkommen. "Jeder", sagt der Swinemünder Historiker Józef Pluci nski, "bringt mit seinen Euro auch immer ein Stück europäischen Wohlstands hierher."
Das war schon vor 180 Jahren so. Die Fremdenverkehrstradition der Ostseeinsel ist älter als die der benachbarten ostdeutschen Ferienhochburgen, der "Kaiserbäder" Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin. Von jeher gelten Küstenstädte wie Swinemünde, Misdroy und Kolberg als weltoffen und kundenorientiert - schließlich lebte man von den Fremden. Misdroy, heute wieder eine Art Ferienhauptstadt der Insel, habe schon um 1850 mehr Badegäste als Einwohner gezählt, berichtet Pluci nski. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde es zur Badewanne der Sonnenhungrigen aus Berlin und Stettin.
Spuren der Geschichte, der jahrhundertealten Tradition lassen sich überall noch finden - und werden nun, da Polen zur EU gehört, auch wieder gepflegt. Pluci nski, der im Juli für seine Bemühungen um eine Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, findet es "sehr positiv", dass die Vergangenheit der Region "nicht mehr manipuliert" wird. Kaum jemand in Swinemünde verdränge heute noch die deutsche Geschichte, weiß der Historiker. Die Beziehungen zu den früheren deutschen Bewohnern neu zu gestalten biete "eine große Chance für die Stadt".
Swinemünde zählt inzwischen jährlich rund 80 000 Touristen, fast doppelt so viele, wie es Einwohner hat; Misdroy (6000 Einwohner) empfängt pro Saison rund 50 000 Gäste. Und dass viele beim zweiten Mal als Immobilienkäufer wiederkehren, hat einen schlichten Grund: Für Summen zwischen 450 und 1400 Euro ist hier der Quadratmeter Wohnraum samt Grundstück zu haben - Strandnähe und Meeresblick kosten angesichts des knapper werdenden Angebots indes schon um die 2500 Euro.
Der Boom in Polen hat viele Parallelen zu jenem Drang nach Süden, der die Westdeutschen in den siebziger Jahren nach Spanien trieb. Was Mallorca damals für die Altbundesrepublikaner wurde, wird nun Wollin für die vereinten Deutschen - Ort für einen Ausstieg auf Zeit oder gar Ruhesitz.
Wie auf der Baleareninsel gibt es jetzt auch auf Wollin bereits einen so genannten deutschen Hügel, idyllisch gelegen auf der Steilküste und in unmittelbarer Nähe des Golfplatzes des Nobelhotels Amber Baltic. Hier haben sich fast nur deutsche oder polnisch-deutsche Familien Häuser gesichert: ein Juristen-Ehepaar aus Berlin, ein Banker aus Braunschweig oder ein Mittelständler aus Hannover.
Weil in Misdroy kaum noch Neuland zu erschließen ist - im Süden liegen die bewaldeten Höhen des Wolliner Nationalparks -, sind dort viele Apartments schon verkauft; selbst die Eigentumswohnungen am Ortsausgang im Plattenbaustil der neunziger Jahre waren gefragt.
Zwar seien etliche Käufer auch Spekulanten, die auf Wertsteigerung setzten, weiß Immobilienmakler Piotr Romanowicz. Doch die meisten dächten langfristig, suchten Feriendomizil oder Ruhesitz. Etwa fünf Anfragen deutscher Interessenten gehen im Schnitt täglich bei Romanowicz ein.
Die Deutschen reize "das Ursprüngliche", meint Architekturstudentin Justyna Speier, 29, Tochter eines deutsch-polnischen Ehepaares, das sich jetzt ein Grundstück
im pommerschen Küstenort Rewal gekauft hat. In Polen gebe es noch "unentdecktes Neues - gerade für die Westdeutschen. Mallorca kennt man ja". Mancher sei "total überrascht" vom Fluidum der Küstenregion, sagt die Studentin. Viele hätten nämlich noch immer die alten Fernsehklischees im Kopf: "Polen - das ist für die Westler ein zahnloses Muttchen, das den klapprigen Handwagen über `ne schmutzige Dorfstraße zieht."
Dabei ist schon ein gutes Stück europäischen Wohlstands rübergewachsen - viele der stolzen Villen im unverwechselbaren Ostseebäderstil wurden restauriert. Nur das edle Weiß der Kaiserzeit - wie in Binz oder Ahlbeck - hat sich auf Wollin nicht gehalten. Stattdessen dominiert ein kunterbunter Farb- und Stilmix vom taubenblauen Möchtegernbarock bis zur Bauhaus-Architektur in Zinnoberrot. Etwas weiter im Landesinneren finden sich noch überall Häuser in bröckelndem Grau, die auf Käufer warten. Bauvorschriften scheint es kaum zu geben - "jeder kann machen, was er will", sagt Architekturstudentin Speier.
Dabei ist die Idylle auch noch preiswert zu haben: Der Strandzugang ist gratis, in den gemütlichen Straßenkneipen bekommt man das Bier für 50 Cent. Ein Hamburger Versicherungskaufmann lobt das "leckere Essen zu Kantinenpreisen" und ein Württemberger Rentnerpaar den "feinen weißen Sand" am nicht so überlaufenen Misdroyer Strand. "Und abends hat keiner etwas dagegen, wenn zwischen Meer und Dünenrand Lagerfeuer brennen", schwärmt Speier.
Unternehmer Eduard Bergmann sucht nach seiner Nostalgie-Reise jetzt auf Wollin ein passendes Kaufobjekt. Zum einen glaubt er, er könne "hübsch was entwickeln - so, wie es früher mal war". Darüber hinaus ist es eine besonders deutsche Art der Selbsthilfe. Dem Ex-Berliner fehlt im Hotelangebot des polnischen Ferienparadieses "etwas Kleines, aber Hochklassiges", eben eine Unterkunft mit jenem Standard, "den wir von zu Hause kennen".
Ressentiments, als Deutscher in Polen Grund und Boden zu kaufen, kennt Bergmann nicht: "Je mehr Investoren kaufen und je schneller es mit dem Aufbau geht, desto besser ist es doch auch für die Polen." Wenn doch mal ein Pole misstrauisch reagiert habe, "weil ich dem Alter nach ein Ex-Eigentümer sein könnte", habe er immer gesagt: "Was der Krieg gebracht hat, kann keiner zurückdrehen - aber heute sind wir alle Europäer."
Bergmann, der schon vor dem Abitur seine erste Firma gegründet hatte, sieht sein Projekt an der polnischen Ostseeküste zudem als sichere Zukunftsinvestition. Für ihn steht fest, dass es in den nächsten fünf Jahren in Polen "einen enormen Aufwärtstrend" geben wird: "Die haben jetzt schon Zuwachsraten, von denen wir hier nur noch träumen."
IRINA REPKE
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